Die Wahlrechtsreform - ein demokratischer Rückschritt?

Die Wahlrechtsreform erhitzt die Gemüter. Ich teile die Aufregung. Für mich ist der Entwurf der Ampel-Fraktionen ein demokratischer Rückschritt.

Um das vorweg zu nehmen: Natürlich bleibt Deutschland auch mit dieser Wahlrechtsreform ein in höchstem Maße demokratisch verfasster Staat. Allerdings lebt Demokratie, was im wörtlichen Sinne ja „Volksherrschaft“ bedeutet, von der Nähe ihrer Repräsentanten zum Volk, zu den Bürgerinnen und Bürgern vor Ort und davon, ihre Herausforderungen, Lebenswirklichkeiten und Probleme zu kennen. Diese können jedoch, je nach Ort oder Region, höchst unterschiedlich sein. Dem tragen wir in Deutschland mit unseren Wahlkreisen Rechnung. Heute gibt es – zumindest zu Beginn einer jeden Legistlatur[1] – keinen Wahlkreis, der nicht über einen direkten Vertreter einer der im Bundestag vertretenen Parteien verfügt. Das ist, finde ich, ein sehr hohes Gut. Und ich glaube, das haben seinerzeit unsere Verfassungseltern auch gedacht. Nicht ohne Grund heißt die Stimme, die über die Wahlkreisvertreter entscheidet „ERST-Stimme“.

Mit der Wahlrechtsreform wird dieses System eingeschränkt. Zukünftig soll es möglich sein, dass es für eine ganze Wahlperiode Wahlkreise gibt, die nicht über eine eigene Stimme in Berlin verfügen. Das wird dann der Fall sein, wenn in einem Bundesland mehr Wahlkreise direkt gewonnen wurden, als der Partei nach Zweitstimmen zustehen. Die Wahlkreisgewinner mit den schwächsten Ergebnissen gehen dann mandatsmäßig leer aus. Deren Wahlkreise, was die Vertretung im Bundestags angeht, auch.

Ich halte diese Entwicklung für höchst bedenklich. In einer Zeit, in der unsere Demokratie wie noch nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik um ihre Akzeptanz kämpfen muss, weil sie von Demokratie-Feinden von links und insbesondere und aktuell verstärkt von rechts angegriffen wird, reduziert diese Wahlrechtsreform die institutionelle Verankerung der Demokratie vor Ort bei den Menschen.

Und dabei ist es völlig unerheblich, ob es am Ende des Tages nur wenige Einzelfälle sein werden, die betroffen sind oder nicht. Es geht um das Signal, um die Botschaft und die Sorge, dass der eigene Wahlkreis – und mithin die Besonderheiten der Lebenssituation von rund einer Viertelmillion Menschen[2] – keine Stimme mehr in Berlin haben könnte. Das  ist eine Idee, die nur in einem großstädtischen Milieu entstanden sein kann. In Berlin gibt es beispielsweise zwölf Wahlkreise. Da mag es nicht entscheidend sein, ob einer davon kein direktes Mitglied des Bundestags entsendet, denn im Zweifel sind die Lebenswirklichkeiten in Mitte und Charlottenburg mit Blick auf die Bundespolitik nicht so divergent, dass dort nicht der Bereich mit vertreten würde. Im ländlichen Raum sieht das allerdings ganz anders aus: Die Herausforderungen und Themen im Emsland und der Grafschaft unterscheiden sich beispielsweise erkennbar von denen etwa in der Stadt Osnabrück.

Die Abschaffung der Grundmandatsklausel hingegen ist diskutabel, allerdings, wie ich finde, nicht in dieser Radikalität. Die Grundmandatsklausel sorgt dafür, dass das Gewinnen von mindestens drei Direktmandaten dazu führt, dass die 5%-Hürde entfällt und die Partei nicht nur diese gewonnenen Mandate bekommt, sondern alle, die ihr nach ihrem Zweitstimmenergebnis zustehen. Das ist zum Beispiel bei der Partei DIE LINKE der Fall. Sie hat ein Zweitstimmenergebnis von 4,9 % bei der letzten Bundestagswahl erreicht. Da sie aber drei Direktmandate gewonnen hatte, durfte sie mit 39 Abgeordneten in den Bundestag einziehen. Doch hier schüttet die Ampel-Koalition mit ihrem Gesetzesentwurf das Kind mit dem Bade aus. Wieso sollen denn nicht die drei direkt gewählten Abgeordneten ihre Wahlkreise im Bundestag – ohne Fraktionsstatus – vertreten dürfen? Man muss doch nicht auch noch die übrigen 36 quasi per Huckepack mit ins Parlament nehmen. Wie absurd die Abschaffung dieser Regelung in ihrer Konsequenz wäre, sehen wir, wenn wir auf die CSU blicken. 2021 erreichte die CSU bei der Bundestagswahl einen Stimmenanteil von 5,2 % und sie gewann 45 Direktmandate. 0,3 Prozentpunkte bei der nächsten Wahl im Zweitstimmenergebnis weniger würden dann dazu führen, dass 45 Direktmandate (und in Bayern gibt es insgesamt nur 46) nicht besetzt würden – hier wäre dann sogar fast ein ganzes Bundesland von der Wahlkreisvertretung ausgeschlossen.

Klar ist: Die Reform des Wahlrechts gleicht der Quadratur des Kreises und eine Lösung liegt nicht auf der Hand. Deswegen ist es immer einfacher, an einem Vorschlag herumzukritisieren ohne einen eigenen Vorschlag auf den Tisch zu legen. Das ist aber auch ein Stück weit die Rolle des Bundesverfassungsgerichts, das hier – vereinfacht – gesagt hat: „So geht es nicht, macht es anders.“ Aber: Wenn ein solcher Vorschlag so sehr zu Lasten von Parteien angeht, die der Regierung nicht angehören, dann hat das ein Geschmäckle, das so jedenfalls nicht im Sinne der Demokratie sein kann.

Aber auch der Ansatz der CDU, einfach die Zielgrößen zu verringern, hat Schwächen. So würde die Zahl der vertretenen Menschen in den Wahlkreisen größer und der Abgeordnete würde ein Stück weiter vom Bürger wegrücken. Außerdem wäre die Wirksamkeit nicht durchschlagend gegeben – es würde weiter möglicherweise schwer zu kalkulierende Schwankungen durch Überhang- und Ausgleichsmandate geben.

Es bleibt also in jedem Fall spannend, wie das Bundesverfassungsgericht selbst diese Wahlrechtsreform beurteilen wird. Denn klar ist: Dieses Gesetz wird in Karlsruhe zur Überprüfung vorgelegt werden.

 


[1] Diese Einschränkung ist notwendig, weil im Falle eines Ausscheidens eines MdB, der seinen Wahlkreis direkt gewonnen hat, der oder die Nachfolger*in über die Landesliste nachfolgt und somit nicht zwingend aus demselben Wahlkreis kommen muss. In diesem Fall kann es passieren, dass ein Wahlkreis für eine Zeit lang bis zur nächsten Wahl keinen direkten Vertreter hat.

[2] Die Wahlkreise sind so zugeschnitten, dass in etwa jeweils 250.000 Menschen in diesen Gebieten leben.

 

 

Über den Autor:

Marcel Speker ist studierter Politikwissenschaftler und gelernter Redakteur. Seit Juli 2021 ist er Akademiedirektor des LWH. Mehr Informationen zu Herrn Speker finden Sie hier.