In die Zeit gestellt

Kirchliche Erwachsenenbildung „nach“ Corona

Im März 2020, die Corona-Pandemie hatte sich auch hierzulande zu einer wirklichen Krise aufgeschwungen, veröffentlichte der Zukunftsforscher Matthias Horx in der österreichischen Tageszeitung „Kurier“ einen vielbeachteten Artikel[1]. „Nichts wird so sein wie zuvor“ prognostizierte Horx und sagte als Folge der globalen Pandemie eine Zeitenwende in Wirtschaft und Gesellschaft voraus. In drei Schlagworten zusammengefasst: Alles wird anders: Lokaler, sozialer, offener!

Horx wendete in dem Artikel einen stilistischen Kniff an: Er formulierte seine Gedanken nicht als Zukunftsprognose, sondern als „Re-Gnose“, als Blick aus der Zukunft auf die Gegenwart. Dabei versucht er den stattgefundenen „menschlichen Erkenntnisprozess“ (alternative Bezeichnung: „innerer Wandel“) einzubeziehen. Seine Zeitschiene erstreckte sich auf ein halbes Jahr – „Zukunft“ war der Herbst 2020, Gegenwart wie schon erwähnt März 2020. Ich finde den Ansatz spannend, insbesondere in Bezug auf den genannten „Erkenntnisprozess“, denn wenn viele Menschen plötzlich anders ticken, ist das für diejenigen, die mit Menschen arbeiten, bedeutsam. Ich möchte einige Schlaglichter auf mein berufliches Umfeld werfen, die Erwachsenenbildung im kirchlich-sozialen Bereich. Ich meine, dass sich hier zum einen tatsächlich grundlegende Dinge geändert haben und zum anderen ändern müssten - vielleicht nicht nur infolge der Corona-Pandemie. In jedem Fall aber wird der Pandemie für verschiedene Bereiche eine „Katalysator-Funktion“ zugeschrieben, also eine Beschleunigung von Trends, Entwicklungen oder Tendenzen – so auch hier.

Menschen sind weniger kompromissbereit! Ein Beispiel: Wenn ich meinen Seminargästen 2019 mithilfe von Powerpoint-Folien Sinn und Zweck einer „Heimvolkhochschule“ erklärt habe, wähnte ich mich insgeheim bereits auf verlorenem Posten. „Leben und lernen unter einem Dach“ lautet das „flotte“ Motto dieser Art von Einrichtungen – doch das wollen heute nur noch ganz wenige. Die meisten Menschen „leben“ eher zu Hause, im Urlaub oder sonstwo – in ein Tagungshaus kommen sie, um sich fortzubilden, etwas Neues zu lernen und um Gleichgesinnte zu treffen. Gästen ist die Umgebung immer wichtiger: Tagungsmöglichkeiten und Unterkunft müssen auf einem ansprechenden Niveau sein. Es zählt das Hier und Jetzt: Wenn man als einzelner Gast das Gefühl hat, dass einem zu jedem Zeitpunkt jeder Mitarbeiter des Hauses auf Augenhöhe begegnet und sein möglichstes dafür tut, dass der Gast eine gute Zeit im Haus erlebt – dann kommt man auch gerne wieder. Darin kann für kirchliche Einrichtungen ein echtes Proprium, also Alleinstellungsmerkmal liegen – weil der Grundsatz bereits im christlichen Wertekanon angelegt ist: Die Konsequenz ist, dass es in Bezug auf die Haltung der Mitarbeiter den Gästen gegenüber keine Rolle spielt, ob der Gast nun Landtagsabgeordnete, Bischof, alleinerziehende Mutter oder eine ukrainische Familie ist, die vor dem Krieg in der Heimat fliehen musste.

Ewiggestriges wird nicht mehr toleriert – ebenso wenig wie der Versuch, die Zukunft zu verschlafen. Aus meiner Sicht verschwendet kirchliche Erwachsenbildung zu viel Zeit damit, sich mit Nischenthemen zu beschäftigen. Zu den Klassikern im Bereich der Abendveranstaltungen zählen seit Jahrzehnten Diskussionsrunden zu den bekannten „Reizthemen“: Zugang zu Weiheämtern für Frauen, Homosexualität, Machtstrukturen und so weiter. Das Problem daran: Erkenntnisgewinn und Veränderung der Verhältnisse sind in der Kirche unterschiedlich verortet. Eine Ausnahme für die deutschen Bistümer könnte der „Synodale Weg“ sein. Aber jetzt, da es so langsam ernst wird, kommen Nebelkerzen aus Rom geflogen. Wieder herrscht große Frustration. Ich bin ehrlich: Ich als Theologe lese keine theologischen Abhandlungen über die oben genannten Themen mehr. Alle Argumente liegen seit Jahren auf dem Tisch. Die Erwachsenenbildung tut sich und den (mittlerweile) Wenigen, die darüber diskutieren wollen, mit ständiger Wiederholung keinen Gefallen – sie verschwendet Zeit und Energie. Übrigens scheint es mir auch keine glaubwürdige Lösung zu sein, „im Namen der Christen“ die Gegenposition zur Amtskirche einzunehmen und die Grüne Jugend im gesinnungsethischen Niedrigseilgarten links zu überholen – genau das passiert auf einigen „katholischen“ YouTube-Kanälen.

Die Energie wäre woanders deutlich besser aufgehoben: Durch die Reform der Grundordnung deutet sich in der katholischen Kirche ein Paradigmenwechsel an, der Chancen bietet: Das „Katholische“ an einer Einrichtung oder Organisation wird nicht mehr am „Katholisch sein“ der einzelnen Mitarbeiter festgemacht – sondern durch den Träger der Einrichtung definiert, entwickelt und umgesetzt. Von Franziskus kennt man den sehr bekannten Aufruf, die Kirche müssen „zu den Rändern“ gehen, also dort aktiv sein, wo Hilfe und Unterstützung gebraucht wird. Was könnte ein solcher Aufruf für eine Bildungseinrichtung bedeuten? Sie könnte darauf achten, einen Teil ihrer Arbeit hier anzusiedeln: Seminare für Alleinerziehende, Bildungsangebote für geflüchtete Menschen, aber auch Fort- und Weiterbildung im Bereich Gesundheit und Soziales – in den Themenfeldern, die von der direkten Fachlichkeit (Pflege etc.) nicht oder unzureichend abgebildet werden. Dazu könnte etwa die Kommunikation mit Angehörigen, Trauerarbeit oder Kenntnisse in ethischen Fragen gehören. Zudem erinnere ich mich gut an die Ideen des ehemaligen LWH-Direktors Michael Reitemeyer, der auch im pastoralen Bereich Potenzial erkannt hat: Menschen an wichtigen Wegpunkten ihres Lebens begleiten, und zwar nicht im Sinne einer kirchlichen Missionierung, sondern persönlichkeitsbildend, bestärkend, orientierend. Das kann der Übergang von der Schule in den Beruf sein, die Entscheidung zweier Menschen für eine (nicht unbedingt kirchliche!) Hochzeit, die Geburt eines Kindes, aber auch das Abschiednehmen von lieben Menschen. Investitionen in diesem Bereich kämen dann ebenso einem Paradigmenwechsel gleich: Eine Einrichtung legt nicht einfach eine Bibel auf den Nachtschrank und zeigt so, dass sie kirchlich ist - sondern macht die Fragen und Herausforderungen zum Thema, mit denen die Menschen unterwegs sind (jahrhundertelang war es umgekehrt - da gab die Kirche den Menschen Fragen vor und lieferte die Antworten gleich mit). Am Rande erwähnt: Es mag schwierig sein, die genannten Angebote zu „Marktbedingungen“ zu finanzieren – aus meiner Sicht ist kirchliches Vermögen hier bestens aufgehoben. Die Finanzierung von kirchlichen Bildungsveranstaltungen durch Bistümer sollte nicht durch Umlagen nach dem Gießkannenprinzip erfolgen, sondern gezielt in die Angebote fließen, die im Zuge der Profilierung entwickelt und platziert werden.

Ein letztes: Als Post-Corona-Phänomen wird derzeit der vermehrte Rückzug von Menschen ins Private erkannt. Stark verkürzt: Man zieht sich aus gesellschaftlicher Präsenz und Verantwortung zurück und kümmert sich stattdessen um das eigene Wohl, den eigenen Garten, das eigene Haus, den eigenen Instagram-Kanal. Kirchliche Bildungshäuser sind Orte der Begegnung. Auch abseits des Seminargeschehens sollten aus meiner Sicht Anreize geboten werden, mit anderen in Kontakt zu kommen. Das ist ein platt klingendes, aber zugleich hehres Ziel. Es ist das Gegenteil vom „Tchibo-Phänomen“. Bei Tchibo-Produkten haben viele Menschen zunächst die Vermutung, dass sie sie dringend brauchen und stellen irgendwann fest, dass sie eigentlich überflüssig sind. Bei der Abendgestaltung im offenen Bereich eines Bildungshauses ist es anders: Viele Gäste würden – wenn sie überhaupt das Übernachtungsangebot in Anspruch nehmen - lieber auf dem Zimmer bleiben und die Netflix-Serie zuende schauen. Haben sie dagegen doch mit anderen Gästen zusammen ein Bier getrunken und sich ausgetauscht, sind sie im Nachhinein positiv überrascht davon, wie bereichernd ungezwungene soziale Kontakte mit teils fremden Menschen sein können. Der Trend zu Online-Veranstaltungen mag stark sein und sich in einigen Bereichen als äußerst effizient und sinnvoll erweisen – wirkliche Begegnung findet jedoch nur da statt, wo Menschen sich tatsächlich begegnen. Wenn die Rahmenbedingungen genau das fördern und die Bildungsangebote ansprechend sind, gehört kirchliche Erwachsenenbildung nicht der Vergangenheit an – ihr wird ein guter Teil der Zukunft gehören.

 


[1]

kurier.at/wissen/matthias-horx-das-ist-ein-historischer-moment/400785341

Bildnachweis: ThisisEngineering RAEng auf Unsplash
  

Über den Autor:

Markus Wellmann ist Theologe und Studienleiter für Ethik im Gesundheitswesen im LWH. Mehr Informationen zu Hernn Wellmann finden Sie hier.