Erasmus+ in Estland: Ist die Digitalisierung der Heilige Gral der Bildung?

Im Bildungsbereich hat sich bereits herumgesprochen, dass Estland ein Vorreiter in der Digitalisierung ist. e-Estiona gilt als digitales Musterbeispiel in der Verwaltung. Bereits seit 2001 ist der elektronische Personalausweis verpflichtend und 99,9 Prozent aller staatlichen Dienstleistungen sind online verfügbar. Die digitale Steuererklärung dauert in Estland beispielsweise zehn Minuten. Zudem hat das kleine baltische Land mit seinen 1,3 Millionen Einwohnern eine große Kompetenz im Bereich der Cyber-Sicherheit. Laut einer Studie gehört Estland hierbei zu den drittbesten der Welt und ist auch das Zuhause des „Cyber Security Center“ der Nato.

Uns wird klar, dass wir wenig über dieses Land wissen, welches im August 1991 seine Unabhängigkeit von der Sowjetunion erklärte. Und uns treibt die Frage: Wie wird die Digitalisierung im Bildungsbereich umgesetzt? Werden wir Lernsettings sehen, in denen PCs, iPads und Roboter die Hauptrolle spielen? Eine Gruppe von 18 Erzieherinnen und Lehrkräften aus Bayern, Niedersachsen und der deutschen Schule in Athen hat sich gemeinsam auf den Weg gemacht, diese Fragestellungen näher zu erkunden. Im Rahmen eines Erasmus+ Projektes konnten in den Städten Tallinn und Tartu verschiedene Kindergärten und Schulen besucht werden.

Was erlebten wir in Estland? Estland ist ruhiger, sauberer, digitaler und kreativer – so könnte man die zentralen Erkenntnisse zusammenfassen. Aber diese Zusammenfassung ist nicht ausreichend und beschreibt nicht das, was uns während dieser Lernreise bewegt hat. Erstaunt hat uns, dass wir überall im Land Spuren der deutschen Sprache und der skandinavischen Architektur vorgefunden haben. Ein Anlass, sich mit der wechselhaften Vergangenheit des Landes auseinanderzusetzen. Tief berührt hat uns die herzliche Gastfreundschaft. Viele waren an einem Austausch mit uns interessiert und Ideen und Erkenntnisse wurden umfassend geteilt. Und die Sauberkeit? Diese Tugend ist sicherlich den Esten zuzuschreiben. Egal ob in den Schulen, im Kindergarten oder in den Straßen. Die Esten schätzen ihren Lebensraum wert. Tallinn ist in 2023 „Green Capital“, die grüne Hauptstadt Europas geworden und hier werden Nachhaltigkeit und Ressourcenschonung großgeschrieben.

Einen ebenso hohen Stellenwert hat Bildung. Dieser wird an den Ausstattungen der Kindergärten,Schulgebäuden und deren Gestaltung deutlich: pädagogisch sinnvolles, modernes Mobiliar, große und gleichzeitig ruhige Lernräume sowie aktuelles didaktisches Material - wenn sinnvoll -  auch digital. So konnten wir bereits im Kindergarten sehen, wie interaktive Whiteboards, Tablets und Roboter die Lernsettings bereichern. Aber die digitalen Medien lösen nicht das Spielen oder den Stift ab. Ein stabiles W-LAN gab es überall: Ein Internetanschluss gehört zu den Grundrechten und den Breitbandzugang sichert die Verfassung. Eine wichtige Grundlage, um digital zu arbeiten und zu lernen,die in Deutschland an vielen Bildungseinrichtungen nicht gewährleistet wird.

Sowohl im Kindergarten als auch in der Schule arbeiten Lehrkräfte mit einem Bachelor- oder Masterabschluss. Der Verdienst ist unabhängig von der Tätigkeit im Kindergarten oder in der Schule gleich und die Qualifikation ist insgesamt hoch. Uns hat beeindruckt, wie durchdacht die Materialien und Medien eingesetzt werden. Digitalisierung hat einen großen Stellenwert – da wo diese das Lernen bereichert. Gleichzeitig haben wir gesehen, dass die kreativen Fächer und auch Hauswirtschaft eine große Bedeutung im Curriculum haben. Es wird gemalt, geschnitzt und gestrickt – auch in den höheren Klassen. Moderne Lernräume für diese Fächer mit verschiedenen aktuellen Maschinen machen Lust auf das praktische Lernen. Ziele sind neben der Förderung der Kreativität und des problemlösenden Denkens auch die lebenspraktische Ausbildung. Schulen und Kindergärten haben Freiräume in den Schwerpunktsetzungen. Beispielsweise haben wir an einer Schule die „Draußen-Spiel-Stunde“ kennengelernt, die einmal pro Woche – egal bei welchem Wetter – im Stundenplan verankert ist und wir sahen an allen Kindergärten den Gemüsegarten.

Und sonst? Kinder lernen bereits im Kindergarten das Schreiben, Lesen und Rechnen. Sehr spielerisch werden die Kinder an die Buchstaben und die Zahlen herangeführt, sodass sie bei der Einschulung mit sieben Jahren bereits Lesen, Schreiben und Rechnen im Zahlenraum bis 20 können. Kindergärten und Schulen sind pädagogisch durchdachte Lernräume. Überall wird sichtbar, dass Pädagogen und Architekten gemeinsam den Schulbau planen: lärmmindernde Akustik, bewegungsanimierende Flurgestaltung, Gruppenräume in ausreichendem Maße, Arbeitsplätze für Schüler*innen und Lehrkräfte sowie Licht und Transparenz im Raum. Ein höherer Personalschlüssel und kleinere Lerngruppen ermöglichen die individuelle Förderung der Kinder.

Wir sind nach einer Woche sehr beeindruckt von diesem Land, welches in der Lesekompetenz (Platz 5), in der Mathematik (Platz 5) und in den Naturwissenschaften (Platz 8) sehr gut im PISA-Vergleich abschneidet. Sicherlich liegen Erfolgsfaktoren sowohl auf der finanziellen Ebene als auch auf der persönlichen Ebene. Hochqualifizierte Lehrkräfte im Kindergarten und in der Schule, pädagogisch durchdachte Lernräume und eine hohe Identifikation mit dem Beruf sind neben der didaktischen Abwägung der eingesetzten Medien und Materialien der Schlüssel zum Erfolg im Bildungssystem in Estland. Wir sind uns einig: Wir möchten von diesem wunderbaren Land noch mehr kennenlernen, um weitere Ideen auf unsere Bildung in Deutschland zu übertragen. Leider schwingt bei all unserer Begeisterung auch die Frage mit, wie wir die notwendigen finanziellen Ressourcen erhalten, um unsere Lernsettings durch Roboter und elektronische Medien zu bereichern.

 

Von der Aktivität im Rahmen des Förderprogramms Erasmus+
berichtet aus Estland Judith Hilmes.