"Das größte Armutsrisiko ist das Nicht-Arbeiten"

"Lohnt es sich noch zu arbeiten?" - Vor dem Hintergrund dieser Frage diskutierte ein Akademieabend im Ludwig-Windthorst-Haus, in Kooperation mit der Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung der CDU im Altkreis Lingen (MIT), die Frage des Abstandes zwischen Lohn und Lohnersatzleistungen. Um das vorweg zu nehmen: Der Themenkomplex stellte sich als komplizierter sozialpolitischer Sachverhalt heraus, dem mit einfachen Wahrheiten nicht beizukommen ist.

Das wurde schon deutlich, als Dr. Oliver Stettes vom Institut der deutschen Wirtschaft gleich zu Beginn seiner Keynote darauf verwies, was von ihm nicht zu erwarten sei: Die Frage der Lohnhöhe sei getrennt von der Frage der Höhe der Lohnersatzleistungen zu diskutieren. Das liege daran, dass sich die Höhe des Lohnes an ganz anderen Kriterien orienitere, als die Höhe der Lohnersatzleistungen. "Ein leistungs- und wertschöpfungsorientierter Lohn, dessen Höhe am Arbeitsmarkt gefunden und vereinbart wird, der ist nie bedürfnisorientiert. Der kann ausreichend hoch sein, um die Bedürfnisse zu decken, muss es aber nicht. Bei welcher Höhe eine Grundsicherung den Bedarf angemessen deckt ist keine arbeitsökonomische Frage", so Stettes. Er stellte dann die Mechanismen der Anrechnung bei Zuverdienst vor und forderte eine die Anrechnungsmodalitäten umzudrehen. Aktuell sei es so, dass der Anreiz eine Beschäftigung aufzunehmen für Empfänger von Transferleistungen mit steigender Stundenzahl abnehme. Das bedeutet, dass je mehr Stunden gearbeitet werden, je überproportionaler werde angerechnet. Ab einer halben Stelle seien die Abzüge am größten  Drehe man es um, wäre eine gerine Stundenanzahl unattraktiver als eine halbe oder ganze Stelle. Stettes machte aber auch deutlich: "Am Ende des Tages ist es so, dass das größte Armutsrisiko das Nicht-Arbeiten ist."Im Anschluss an den Impuls von Dr. Oliver Stettes ergänzten Blandine Kötter-Augereau (Bereichsleiterin der Bundesagentur für Arbeit) und Bernhard Sackarendt (Bundesvorsitzender des verbandsrates des Sozialverbandes Deutschland) unter der Moderation von LWH-Direktor Marcel Speker das Podium und diskutierten untereinander und mit den Besuchern.

Blandine Kötter-Augereau blickte zunächst auf die aktuelle Situation hier vor Ort:

Die aktuellen Arbeitsmarktzahlen zeigen eine Arbeitslosigkeit von 3,3 Prozent in dieser Region. Das bedeutet 9.000 Personen im Emlsand und in der Grafschaft Bentheim, die arbeitslos sind. Ein Drittel davon, ungefähr 3.700, sind bei uns und SGB-III und die übrigen, also etwa 5.000, in Jobcenter-Welt. Das ist eine Top-Zahl.  Im SGB-III-Bereich haben wir sehr wenige Langzeitarbeitslose. Das sind insgesamt gerade einmal 360. Und die meisten sind über 60 Jahre. Und da müssen sich auch die Unternehmen fragen , wie sie zur Beschäftigung von Menschen über 60 stehen, ob sie Bewerber mit 61, 62, 63, einstellen können und wollen. Und da haben wir manchmal einen Punkt, wo es ein bisschen hakt zwischen Arbeitsmarkt und Kundschaft. Sie haben das Thema Frauen erwähnt. Wir haben auch Frauen, die leider keine Kinderbetreuung haben. Sie wollen sich weiterqualifizieren. Das hakt. Da können sie nicht arbeiten. Dann bleiben Sie bei uns eine Weile. Und es gibt auch natürlich auch Leute mit Behinderung, die suchen auch nach Arbeit, sind aber vielleicht auch nur eingeschränkt einsetzbar. Wir arbeiten mit großem Einsatz, etwa durch Fachpraktika oder Qualifikationen, daran, dass sich diese Hindernisse auf dem Arbeitsmarkt für diese Kundschaft spürbar verringern. 

Dr. Oliver Stettes hob auf den systemischen Unterschied zwischen gesetzeslogik und aktuellen Arbeitsmarktanforderungen ab:

Die Hinzuverdienstgrenzen, so wie wir sie im SGB II haben, also praktisch im Bürgergeld oder im Arbeitslosengeld II, die kommen aus einer anderen Logik und aus einer anderen Zeit. Damals hatten wir Massenarbeitslosigkeit. Und damals hatte man die Vorstellung, dass man versucht, in einer schwierigen Arbeitsmaßnahme Menschen zu motivieren, zumindest, wenn auch nur für wenige Stunden, dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stehen. Und da war es aus dieser Perspektive sinnvoll zu sagen, die ersten 100 Euro bleiben anrechnungsfrei. Das war die Logik damals. Wir leben aber jetzt in einer anderen Welt mittlerweile. Heute haben wir keine Massenarbeitslosigkeit mehr, hoffentlich kommen wir auch nicht dahin mehr. Der Arbeitsmarkt ist nicht mehr so rosig wie vor zwei, drei Jahren. Der demogramische Wandel wird aber dafür sorgen, dass wir sicherlich nicht mehr diese Arbeitslosigkeit zusammenbekommen wie Anfang der Nullerjahre. Und jetzt geht es darum, wie können wir Menschen motivieren, möglichst ihre Arbeitszeit auszuweiten. Und da stehen uns diese Anrechnungsregelungen ein bisschen im Weg.

Bernhard Sackarendt warf noch einen Blick auf das Thema pflegende Angehörige und machte damit den Kreis der betroffenen Fragestellungen noch größer:

Wir haben das Problem einer alternden Gesellschaft. Die größte Pflegeinstitution ist nach wie vor in Deutschland die Familie. 80 Prozent aller Pflegebedürftigen werden in den Familien gepflegt. Wie viele, vor allem Frauen, muss man dazu sagen, nehmen sich zurück, gehen weniger arbeiten, weil sie Pflegeaufgaben zu Hause wahrnehmen? Auch da fehlt es. Ambulante Pflegestellen werden zugemacht, weil uns das Fachpersonal fehlt. Also ich glaube, die Diskussion, die wir hier führen, oder die hier als Überschrift entstanden ist, dieser Abstand, lohnt es sich noch zu arbeiten, hat ja etwas zu tun mit dem Abstand zwischen dem Bürgergeld und dem, was sich dann ergeben würde, wenn ich arbeiten würde. Das ist doch eine Diskussion, die aus meiner Sicht in der Bevölkerung sehr emotional geführt wird, nach dem Motto, ich leiste mehr, ich tue was, die tun nichts. Aber so ist es ja nicht, so einfach ist es ja nicht, es ist ja viel vielschichtiger. Es gibt eine Menge Menschen, die würden gerne arbeiten, können aber nicht, weil sie zum Beispiel Erziehungsaufgaben haben, weil sie zum Beispiel Pflegeaufgaben haben und weil die Institutionen nicht da sind, die das übernehmen können. Auch das muss man einfach mal sehen. Wir sind genau in diesem Dilemma, was Sie am Anfang hervorragend dargestellt haben, auf der einen Seite die reine Ökonomie, auf der anderen Seite das Thema, was will unsere Gesellschaft als gesellschaftlichen Ansatz, um auch die sozialen Anforderungen, die das Grundgesetz an uns stellt, zu erfüllen.

In der Schlussrunde waren die Poidumsteilnehmenden dann aufgerufen, die Frage aus dem Veranstaltungstitel "Lohnt es sich noch zu arbeiten?" zu beantworten. 

Dr. Oliver Stettes:

Es lohnt sich aus meiner Sicht immer zu arbeiten, weil Arbeit nicht nur Verdienst ist, sondern auch Teilhabe und Entwicklungsmöglichkeit. Ich kann aber nachvollziehen, wenn Menschen sagen, finanziell lohnt sich das für mich nicht.

Blandine Kötter-Augereau:

Also ich bin komplett davon überzeugt, dass es sich lohnt zu arbeiten. Und aus meiner Erfahrung sind die Leute, in SGB II oder SGB III nicht die Glücklichsten. Die deutsche Gesellschaft stigmatisiert übrigens Menschen in Erwerblosigkeit sehr stark, ganz anders als zum Beispiel in Frankreich.  Also als ob sie irgendwas Falsches gemacht hätten. Ich verstehe nicht, dass diese Debatte so heftig geführt wird. Wenn man hinter die Personen blickt und die Schicksale berücksichtigt, ist das irgendwie manchmal nicht so verständlich.

Bernhard Sackarendt:

Es lohnt sich immer zu arbeiten. Es lohnt sich deswegen zu arbeiten, weil man mehr Geld verdient - in jedem Fall ist der Abstand deutlich höher mit Arbeit als ohne Arbeit. Es lohnt sich deswegen zu arbeiten, weil man soziale Kontakte hat, weil Arbeit auch ein Gegenmittel ist gegen Einsamkeit und gegen Vereinzelung.