Christian Wulff: Gräben zuschütten, statt Mauern errichten

Zum 212. Geburtstag von Ludwig Windthorst sprach Bundespräsident a.D. Christian Wulff auf Einladung der Ludwig-Windthorst-Stiftung im Rathaus von Osnabrück über „Die persönliche Verantwortung fürs Ganze“. Zunächst dankte er ausdrücklich auch dem Bistum Osnabrück für das Bekenntnis, Bildungsbistum sein zu wollen und dafür, so die christliche Verantwortung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt anzunehmen. Wulff appellierte daran, jeglichen fremdenfeindlichen Tendenzen, auch im Freundes-, Nachbarschafts- und Bekanntenkreis, aktiv und entschieden entgegen zu treten.

Wulff nahm Bezug auf die Äußerungen von Domkapitular Ulrich Beckwermert beim Neujahrsempfang des Weihbischofs. Dort machte er deutlich, dass Bildung ein wichtiges Instrument gegen Antisemtismus und Hass grundsätzlich sei und nannte den Anspruch, Bildungsbistum sein zu wollen. Er berichtete von seinem Besuch in zwei Schulen in Osnabrück und dem Dienst, der dort an jungen, in der aktuellen Mediengesellschaft Halt suchenden, Menschen geleistet werde:

Das ist mir da wunderbar vorgeführt worden und in einer Form von Diskussion und Frühgemeinschaft, dass ich nur sagen kann, da wird es deutlich, was jede und jeder in unserer Gesellschaft mit einbringen kann. Denn in dieser jungen Generation ist es ja so, dass da viele auf das Handy zentriert und auf die sozialen Netzwerke konzentriert sind und sich allzu häufig fragen, dass sie vielleicht nicht wahrgenommen werden könnten oder wie sie mit noch einem Fotofarbfilter besser wahrgenommen werden könnten. Und die Frage doch eigentlich sein muss, dass die größte Sorge ist, dass man andere nicht wahrnimmt, die der Wahrnehmung bedürfen. Und vor dem Hintergrund leisten bischöfliche Schulen, leisten Privatschulen der Kirchen in kirchlicher Trägerschaft und in Trägerschaft der Schulstiftung Gigantisches, Großartiges.

Gleichzeitig blickte er nüchtern auf die Situation der katholischen Kirche, die sich nicht nur in den Austritten, sondern auch in den mangelnden Eintritten, sprich: Taufen, spürbar und schmerzhaft bemerkbar mache. Auch hier sehe er eine große Möglichkeit über Bildungseinrichtungen Menschen zu erreichen und für Kirche zu gewinnen, die Gemeinden an vielen Stellen so nicht mehr leisten können:

Von 204.000 Kindern im letzten Jahr, die hätten katholisch getauft werden können, sind 103.000 getauft worden. Und das zeigt, dass hier ein Abbruch, ein Kulturabbruch stattfindet, in einer rasender Geschwindigkeit. Und den können wir nur durchbrechen, wenn wir durch solche Einrichtungen wie Kindertagesstätten, wie Schulen, wie Einrichtungen der Erwachsenenbildung auch einen wertprägenden Effekt der Kirchen in unserer Gesellschaft deutlich machen und dann Menschen zurückkehren, dabei bleiben, sich darauf einlassen, darauf setzen, die Kinder taufen zu lassen. Und dieses Anliegen kann ich hier bei der Windthorst-Stiftung so offen vortragen, weil das ein Anliegen gewesen wäre von Windthorst vor allem, der sich allerdings diese Entwicklung hat auch nicht träumen lassen, dass die Leute nicht von Generation zu Generation katholisch bleiben. Aber bei Werner Remmers zumindest war schon immer erkennbar seine Sorge, dass die Kirchen hier zu sehr mit sich selbst beschäftigt seien, zu wenig nach außen wirken würden.

Mit Blick auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt spannte er den Bogen von der kirchlichen zur weltlichen Verantwortung: 

Der Kirchenvater Augustinus hat es ja quasi übermittelt, der Christ soll die Welt nicht anbeten, sondern sie pflügen, soll nicht abseits stehen, sich nicht auf sich selbst zurückziehen, sondern die Welt erkennen und konstruktiv mitgestalten, sich hinwenden zur Verantwortung. Das ist das Thema des heutigen Abends, die Verantwortung des Einzelnen für das Ganze. Da scheint es ganz einfach zu sein, Gräben zu vertiefen, Mauern zu errichten, weil man dann in der Regel den Beifall der eigenen Anhänger bekommt. Es scheint viel schwieriger zu sein, Gräben zuzuschütten oder Brücken zu errichten.

Dabei mache ihm vor allen Dingen die Akezptanz der Demokrie große Sorgen. Eine neutrale Einstellung zur Demokreatie, wie wir es uns über Jahrzezhnte erlauben konnten, sei in der aktuelen Situation viel zu wenig:

Sie alle hören, fortlaufen, mehr denn je, es muss besser werden, es muss sich was ändern. Und dann müssen wir sagen, es ändert sich aber nichts, wenn ich sage, es muss sich was ändern. Es ändert sich nur was, wenn Leute was tun, dass sich was ändert. Da ist dann die Einzelne, der Einzelne gefragt, was er beitragen will in der Demokratie und da ist Ignoranz gegenüber der Demokratie eine der ganz großen Gefahren für unser Zusammenleben. Es gibt eine Allensbach-Studie, da haben 31% aller befragten Deutschen erklärt, dass wir gar nicht mehr in einer Demokratie leben würden, sondern wir lebten in einer Scheindemokratie. Dem Satz, wir leben nur scheinbar in einer Demokratie in der die Bürger nichts zu sagen haben, haben tatsächlich 31% zugestimmt. Was gerade in Thüringen, Sachsen und Brandenburg passiert, ist genau das, was die Väter und Mütter des Grundgesetzes 1949 verhindern wollten. Justus Bender schrieb vor einigen Tagen in der FAZ-Sonntagszeitung, dies ist der Ernstfall, keine Übung, trotzdem herrsche eine gespenstische Ruhe im Land.

Wulff spannt einen weiten Bogen angesichts der demokratiefeindlichen AfD über die Rolle der Kirche bishin zu Parallelen zwischen der heutigen Zeit und der Situation, mit der sich Ludwig Windthiorst konfrontiert sah:

Es ist kein Zufall, dass Kommunismus und Nationalsozialismus Gott als erledigt erklärend und mit Religion und mit Christentum nichts zu tun haben wollten, weil eben Christentum und Totalitarismus unvereinbar sind. Aber unsere Ordnung, unsere Demokratie lebt von Voraussetzungen, die sie selbst nicht verordnen kann. Sie braucht Engagierte mit sehenden und hörenden Herzen, die das Gemeinwohl im Blick haben. Windthorst hatte früh postuliert, gleiches Recht für alle, ob Katholiken, Juden, Pole oder Elsässer, alle gehören dazu und allen gehören die gleichen Rechte. Ihm war übrigens der Satz entgegengeschlagen worden in Preußen, Katholiken gehören nicht zu Preußen, passen nicht zu Preußen. Also nur zu der Frage, Islam gehört zu Deutschland, auch die Frage war strittig, ob Katholiken zu Preußen gehören. Die Zeiten ändern sich, die Herausforderungen haben oft nur ein anderes Antlitz.