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Studientag blickt auf spirituelle Macht und ihren Missbrauch

Als Dr. Hannah Schulz beim Studientag „Spirituelle Macht und ihr Missbrauch“ des Bistum Osnabrück im Ludwig-Windthorst-Haus ans Rednerpult tritt, beginnt sie nicht mit den bekannten Abgründen kirchlicher Gewalt. Sie startet mit einer kaum erwarteten Nachricht: der Erfahrung von Ermächtigung. Menschen, die nach Jahren der Ohnmacht wieder Selbstwirksamkeit spüren, „wachsen psychologisch“, sagt Schulz, und in diesem Satz liegt bereits ihre Kernthese: Macht ist nicht das Problem – sondern der Verlust an Freiheit, der aus ihrem Missbrauch entsteht.

Damit stellt sie die Perspektive des Tages auf den Kopf. Statt Macht reflexhaft zu verdächtigen, fordert die Supervisorin und Beraterin, die seit Jahren mit Betroffenen kirchlicher Machtstrukturen arbeitet, eine Rehabilitation des Begriffs. Macht, so Schulz, sei ein „grundlegendes Element sozialen Lebens“. Sie ermögliche Gestaltung, Selbstverwirklichung und Gerechtigkeit. Foucault, Hannah Arendt, Machttheoretiker aus Soziologie und Philosophie – Schulz führt sie nicht akademisch-abgehoben ein, sondern als Denkwerkzeuge für die kirchliche Gegenwart: Macht ist produktiv. Nur richtig gestaltet schützt sie Freiheit.

Die Referentin zeichnet ein Bild, das in kirchlichen Kontexten sofort Wiedererkennung auslöst. Macht sei selten ein lauter Akt. Oft entfalte sie sich im „vorauseilenden Gehorsam“, im Einfügen in Gewohnheiten, in Strukturen, die niemals ausgesprochen werden und deshalb kaum kritisiert werden können. Die „stille Macht“, sagt sie, sei die gefährlichste – jene, die sich im Selbstverständlichen unsichtbar mache. Gerade in geistlichen Kontexten komme eine zweite Dimension hinzu: die spirituelle Überhöhung. Geistliche Macht werde als „von Gott gegeben“ markiert – durch Weihe, Sendung, Ritus. Doch dieser Anspruch verschleiere, dass kaum jemand sagen könne, was „geistliche Macht“ eigentlich genau sei. „Solange die Begriffe so unscharf bleiben, bewegen wir uns auf rutschigem Boden“, warnt Schulz. Unklare Autorität ist missbrauchsanfällig, gerade weil sie sich göttlich legitimiert.

Mit analytischer Klarheit – und überraschend humorvoll – formuliert Schulz dann eine Art „Kochrezept“ für missbräuchliche Machtstrukturen. Man nehme:

  • eine Organisation mit unklaren Zuständigkeiten,
  • Leitungsämter, deren Aufgaben immer wachsen – aber ohne Ressourcen,
  • Führungskräfte ohne Personalführungskompetenz,
  • hohe moralische Ideale, die Loyalität einfordern,
  • ein Umfeld, das Konflikte meidet und Harmonie beschwört,
  • und schließlich ein Schuss Klerikalismus, garniert mit Eingriffen ins Privatleben.

Heraus komme nicht zwingend ein einzelner Täter, sondern ein System, das Missbrauch ermöglicht, deckt und normalisiert. Täter*innen, Opfer und Struktur böten drei Perspektiven, die man strikt auseinanderhalten müsse. „Wenig ist gefährlicher“, sagt Schulz, „als aus der falschen Perspektive zu diskutieren.“ Besonders eindringlich beschreibt Schulz das, was sie in vielen kirchlichen Einrichtungen erlebt: Die Gewöhnung an Ohnmacht. Wenn Menschen – ob Haupt- oder Ehrenamtliche – über Jahre erfahren, dass ihr Handeln keine Wirkung hat, entstehe „erlernte Hilflosigkeit“. Strukturen, die unklar, widersprüchlich oder willkürlich sind, zersetzen die Fähigkeit, sich überhaupt noch einzusetzen. „Dann sagt man Sätze wie: ‚Man kann ja doch nichts machen.‘“ Für Schulz ist das keine individuelle Schwäche, sondern das Symptom toxischer Systeme. Und es ist einer der Gründe, warum spiritueller und struktureller Missbrauch so nachhaltig wirkt.

Abschließend ermutigt sie zur kleinen, lokalen Gestaltungsmacht – zu Teams, die sich gegenseitig schützen, zu Menschen, die sich Freiräume bewahren und nicht zulassen, dass das System „alle Energie frisst“. „Kirche passiert vor Ort“, sagt Schulz. „Dort haben Sie Einfluss.“ Es ist ein Appell gegen die Selbstaufgabe – und gleichzeitig ein realistischer Blick auf Strukturen, die sich nur verändern, wenn die Ohnmacht durch viele kleine Akte der Ermächtigung durchbrochen wird.

Zuvor hatte der Fachtag ganz bewusst mit einem Impuls einer Betroffenen von Spiritueller Macht und sexuellem Missbrauch begonnen. Und auch zwischen den Impulsen gab es immer wieder Zeit für Rückzug und Raum für Austausch der rund 100 Teilnehmenden, die zu diesem Thema ins LWH gekommen waren.

 

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